Chronik

DIE CHRONIK

1896

„Die Tauentzienstraße setzte sich lange erfolgreich gegen die Rivalität des Kurfürstendamms durch. Sie übertraf ihn an Geschäftigkeit und an Glanz der an den Dächern aufblitzenden Leuchtschriften. Die Fassaden waren von unten bis oben ganz von Licht überflammt und sahen aus wie transparent. In fast allen Stockwerken gab es Geschäfte und Büros, Handels- und Arbeitsstätten.“ 1
Die Tauentzienstraße ist der eigentliche Boulevard in Charlottenburg, der Kurfürstendamm dagegen gleicht eher einem »Sanddamm« .Als Namensgeberin der Stadt diente die früh verstorbene Gemahlin Friedrichs III., Sophie Charlotte. Für Mietshäuser in dieser Gegend wird viel investiert. Die Einwohnerzahl Charlottenburgs steigt in den folgenden Jahren explosionsartig. Im Jahr 1871 zählt Charlottenburg erst 20.000 Einwohner. 1893 erreicht ihre Zahl 100.000 und wächst bis zur Jahrhundertwende auf 182.000 an. Zu Beginn der »Goldenen 20er Jahr« wohnen in der Stadt bereits 335.000 Menschen. Besonders die jüdische Bevölkerung fühlt sich von der Stadt angezogen. In den Jahren 1890-1895 nimmt die Zahl der jüdischen Einwohner Charlottenburgs um 219 Prozent zu, während die Anzahl der Protestanten im gleichen Zeitraum um 69 Prozent und die der Katholiken um 71 Prozent steigt.2

Am Ende der Tauentzienstraße, nicht weit von der Marburger Straße entfernt, ragt die romanische Silhouette der im Jahre 1895 erbauten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche empor.

Im selben Jahr entsteht das zu West-Berliner Zeiten weit über die Grenzen der Stadt bekannt gewordene Café Kranzler am Kurfürstendamm Ecke Joachimstaler Straße und trägt zunächst noch den Namen »Das Kleine Café«.

 

 

1897

In den Berliner Adressbüchern von 1897 ist unter Marburger Straße 3 ein Neubau vermerkt, die Eigentümer sind Paul Mühsam und E. Sohn. Auch für die Hausnummer 4, einer Baustelle, sind dieselben Personen eingetragen. 

Die Königliche Polizeidirektion Charlottenburg erhält am 6. Juni 1896 den Antrag zur Errichtung eines Neubaus in Marburger Straße 3. „Aushändigung des Projektes und des Consenses bitte ich den Herrn Baumeister S. Zadek, Fasanen-Str. 13 zu bewirken“, teilt Paul Mühsam in seinem Brief an die Behörde mit. Am 16. Juli 1896 wird der Bauplan vom »königlichen Baurath« baupolizeilich geprüft. Die Baugenehmigung wird bereits im Juli desselben Jahres erteilt und die Abnahme des Rohbaus findet schon im November 1897 statt.

Ein Jahr später, im Jahr 1898, wird das auf dem Nachbargrundstück entstandene, prächtige Backsteingebäude an eine Stiftung namens Marienstift verkauft. Unter der neuen Eigentümerin entsteht hier ein Hospiz für junge berufstätige Frauen. Gleichzeitig wird Paul Mühsam der alleinige Besitzer des Hauses Marburger Straße 3. In den Berliner Adressbüchern wird sein Beruf als „Rentier“ angegeben.
Das neu erbaute Haus mit seinen großzügigen und herrschaftlichen Wohnungen wird bald mit Leben erfüllt: In das fünfstöckige Haus ziehen die ersten Bewohner ein. Die einzelnen Wohnungen bestehen aus 8 bis 12 Zimmern. Im Erdgeschoss befinden sich Geschäftsräume. Die Ladeninhaber können die Räume im Hochparterre beziehen. Hier wohnt unter anderem Schneidermeister E. Böhlen und eine Künstlerin namens E. Gregor zieht für kurze Zeit ein. Unter den ersten Mietern ist auch Herr Rauhut, der später dann als Portier im Haus tätig sein wird.

Noch ist die Marburger Straße nicht asphaltiert, sie wird trotzdem von keinem einzigen Baum geschmückt. „In nächster Zeit wird die Marburger Straße zwischen Tauentzienstraße und Augsburger Straße nach dem beiliegenden Plan asphaltiert werden.“ 

Zu diesem Zeitpunkt ist völlig unklar, ob an der Straße überhaupt Bäume gepflanzt werden sollen. Das geht aus den Akten des Magistrats Charlottenburg, vom 16. April 1904 hervor. „Es erscheint jedoch fraglich, ob überhaupt die Kanalisations-Deputation in Berlin zu der in Aussicht genommenen Bepflanzung der Marburger Straße ihre Zustimmung erteilen wird, weil nach dem mit derselben im Jahre 1889 getroffenen Abkommen Straßen mit weniger als 26,4 in Breite überhaupt nicht bepflanzt werden sollten.“

 

 

1908

1908 kommt die Tochter Elisabeth Ruth Hildegard von Paul Mühsam und seiner Frau Johanna Elisabeth, geb. Hoffmann, zur Welt. In den Unterlagen ist Chemnitz als Geburtsort vermerkt. Ein Jahr später zieht die Familie selbst in die Marburger Straße ein. Im Haus sind ein Dutzend Bewohner gemeldet, darunter ein Arzt, ein Blumenhändler und ein Friseur. Alle Mieter haben Telefon.

HILDE

20er Jahre

„Am 16. Januar 1928 ist die am 9. April 1908 in Chemnitz geb. Hildegard Mühsam in Berlin auf Grund des Erbscheins des Paul Mühsam vom 18. Januar 1923 als Eigentümerin eingetragen worden.“

Diese Entwicklung Charlottenburgs erlebt Paul Mühsam jedoch nicht mehr. Er stirbt am 20. November 1922. Das Haus in der Marburger Straße erbt laut Testament seine Ehefrau Johanna Elisabeth »Else« Mühsam. In seinem Testament verfügt Paul Mühsam, dass sein Eigentum auf seine Tochter Hildegard Mühsam übergeht, wenn „1) die Witwe Else Mühsam stirbt oder 2) heiratet.“
In diesem Fall erbt die Tochter die eine Hälfte sofort und die andere Hälfte nach dem Tod der Mutter. Else Mühsam heiratet nicht wieder, überschreibt die Marburger Straße offenbar aber ihrer Tochter Hildegard, denn am 16. Januar 1928 bestätigt das Grundbuchamt die Übertragung des Hauses an ihre Tochter. In den Berliner Adressbüchern ist als Eigentümerin jedoch nach wie vor Else Mühsam eingetragen. Auch die Abwicklung der praktischen Angelegenheiten bleibt in der Hand der Witwe. Im Juni 1925 wird das Dachgeschoss in der Marburger Straße zu einem Maleratelier ausgebaut. Weitere Veränderungen werden in den 20er Jahren nicht vorgenommen. 

Im Haus sind 13 Hauptmieter gemeldet. Aus der Sicht der Eigentümerin ist das Haus gut vermietet.

30er Jahre

 

Laut der Berliner Adressbücher scheint es dem Haus in der Marburger Straße nicht an Bewohnern zu mangeln, denn in den Hausbüchern finden sich über die Jahre die Namen von 13 Geschäften bzw. Privatpersonen. Viele Bewohner, wie der Universitätsprofessor und Arzt von Lichtenberg, Diplom-Ingenieur Kirchner, Kommerzienrat Simon und Kaufmann Löwenthal zum Beispiel, leben bereits seit Anfang der zwanziger Jahre in diesem Haus.

Dennoch ist Else Mühsam der Meinung, dass sich die Situation im Hinblick auf die Vermietung verschlechtere, weil es keine ausreichende Nachfrage nach großen Wohnungen gibt.

Im Mai 1931 ersucht Else Mühsam daher um die Genehmigung, die großen Wohnungen mit 8–12 Zimmern in kleinere mit 5–6 Zimmern umwandeln zu dürfen. Zu diesem Zweck muss sie eine Ausnahmegenehmigung erwirken und richtet am 11. Mai 1931 ein Schreiben an die Städtische Baupolizei.
„Da das Projekt gegen die Bestimmungen des § 7 Ziff. 12 des B.O. vom 9.11. 29. insofern verstößt, als selbständige Seiten- und Quergebäude über eine 20 m von der Vorderfront des Vorderhauses entfernte Linie hinaus nicht errichtet werden dürfen, bitte ich hierdurch, mir für den beabsich- tigten Umbau von 12 Zimmerwohnungen Dispens erteilen zu wollen. Als Begründung hierfür möchte ich folgendes anführen:
1) Der erste Hof ist durch eine vorschriftsmäßig 2,50 m breite Durchfahrt, der zweite Hof durch eine 1,25 m breite Durchfahrt zugänglich. 
2) Die Treppenhäuser in den Seitenflügeln haben die erforderliche Breite.
3) Durch die leer stehenden Wohnungen ist meine Existenz schwer gefährdet und erleidet auch der Staat durch den Steuerverlust erheblichen Schaden. Einer baldigen günstigen Entscheidung entgegensehend zeichne ich hochachtungsvoll Else Mühsam.

12. März 1933 entscheidet die Baupolizei über den Antrag von Else Mühsam zur Verkleinerung der Wohnungen. „Antragstellerin beabsichtigt die Großwohnungen im 1.und 4. Obergeschoss zu teilen, so dass im Quergebäude und teilweise in den beiden Seitenflügel gelegen, selbständige Hinterwohnungen entstehen. Mit Rücksicht auf die schwere Mittelbarkeit der Großwohnungen und im Hinblick auf die Wirtschaftslage wird der Dispens befürwortet.“ Die Genehmigung dazu wird vom Bauamt mit dem Stempel vom 20. März 1933 erteilt. 

1934 bekommen Else Mühsam und ihre Tochter Hildegard Mühsam offensichtlich Schwierigkeiten hinsichtlich ihres Eigentums. Denn am 9. Februar teilt die Nationalsozialistische Betriebszelle Amtsgericht Charlottenburg Else Mühsam in einem Schreiben mit, dass das Eigentum ihrer Tochter Hildegard Oppenheim, geb. Mühsam am Haus der Marburger Straße auf ihren Namen zurück übertragen worden ist. „Der der Kostenberechnung zu Grunde gelegte Wert des Grundstücks beträgt 350 000 Reichsmark, Steuernutzungswert 30.700 Mark.“ Dennoch sind in den Berliner Adressbüchern in den Jahren 1935 und 1936 als Eigentümer die »Mühsamschen Erben« eingetragen. Der langjährige Hausverwalter Gießbauer wird 1934 gegen den Verwalter Mittelstand ausgewechselt, der sein Büro in der Landsberger Straße 7 (NO18) unterhält. Seine Amtszeit fällt genau in die Zeit, in der um die Eigentumsverhältnisse des Hauses offenbar gestritten wird. Gerade in diesen Jahren verschwinden auch die langjährigen Bewohner, die durch die dem Nationalsozialismus nahestehenden Unternehmen und Verbände ersetzt werden.

1937 Die Eigentumsverhältnisse sind offenbar endgültig geklärt, denn nun ist Else Mühsam als alleinige Eigentümerin auch in den Berliner Adressbüchern eingetragen. Obwohl das Eigentumsrecht an der Marburger Straße von der Tochter auf die Mutter zurück übertragen wurde, bleibt der Eintrag des Erbrechts von Hildegard Oppenheim im Grundbuch bestehen.
Das Jahr 1937 bringt weitere Veränderungen mit sich, auch im Hinblick auf die Mieter. Im Haus befinden sich jetzt zahlreiche Unternehmen, unter anderem die Fachgruppe für Landmaschinenhandel und die Fachgruppe für Nähmaschinenhandel. Fast alle früheren Bewohner sind verschwunden, mit einer Ausnahme. Der seit Beginn der 20er Jahre in dem Haus lebende Diplom-Ingenieur J. Kirchner hat in der Marburger Straße nun sein eigenes Unternehmen, Fachgruppe Aufbereitung und Baumaschinen der Wirtschaftsgruppe Maschinenbau, das er erweitern und zu diesem Zweck die Mansarde als Büroraum ausbauen möchte.

Elisabeth Ruth Hildegard Oppenheim, geb. Mühsam ist väterlicherseits Halbjüdin. Die 1928 geschlossene Ehe mit dem Fabrikanten und Doktor der Rechtswissenschaften Alexander Oppenheim wird im Juli 1934 geschieden. Im August desselben Jahres heiratet Hildegard den Fabrikanten Karl Adolf Moritz Israel Ladewig. Diese Ehe wird im März 1939 geschieden. Bereits ein halbes Jahr später geht sie die Ehe mit dem dänischen Geschäftsmann Erik Schmidt ein.

Im Oktober 1939 reist Erik Schmidt nach Berlin, um zu heiraten. In diesem Zusammenhang begegnen sich die künftigen Ehepartner das erste Mal. Der Zweck der Ehe ist beiden von Anfang an klar. Hildegard Mühsam will die dänische Staatsbürgerschaft, auf die sie mit der Heirat automatisch Anspruch hat. Bereits beim ersten Treffen verliebt sich das Paar ineinander, so dass sich die ursprünglich formal geplante Verbindung zu einer richtigen Ehe entwickelt. Die Eheschließung selbst findet am 26. Oktober 1939 in Berlin statt. Erik Schmidt ist vom 8. Oktober bis zum 30. Oktober 1939 offiziell in Berlin gemeldet. Als Adresse ist »Pension Korfu«, Rankestrasse 26, vermerkt. Durch die Ehe wird Hildegard Schmidt bei ihrem Mann in Frederiksberg, Danss Plads 10, gemeldet. Doch Hildegard Schmidt zieht in Wirklichkeit nie nach Dänemark.
Im November 1939 trifft sich das Ehepaar für ein paar Tage in Kopenhagen und im Dezember desselben Jahres noch einmal in Berlin, wo es im selben Hotel wohnt. Danach existiert die Ehe bis zum Ende des Krieges lediglich auf dem Papier. Höchstwahrscheinlich entgeht Hildegard Schmidt durch diese Verbindung der Verfolgung durch die Nazis.
1946 reicht Erik Schmidt die Scheidung von seiner Frau ein. Die dänische Staatsbürgerschaft behält Hildegard Schmidt bis zu ihrem Lebensende. Da die Eheleute keinen gültigen Ehevertrag haben, erweist sich die Scheidung als kompliziert. Ist das deutsche oder das dänische Gericht zuständig? Die Angelegenheit wird in Dänemark verhandelt. Hildegard Schmidt muss ihrem Mann keine Entschädigung für das in die Ehe eingebrachte Eigentum zahlen.

1943

In der Nacht vom ersten zum zweiten November 1943 wird Charlottenburg Ziel schwerer Bombardierungen. Die darauf folgenden Luftangriffe am 22. und 23. November 1943 legen den Stadtteil in Schutt und Asche. Das Eigentum von Familie Mühsam bleibt erhalten. 

Unmittelbar nach der Machtergreifung Hitlers geraten die jüdischen Bewohner und deren Eigentum unter Druck. Zunächst werden die in jüdischem Besitz befindlichen Immobilien zwangsversteigert. Ab 1940 gehen die verbliebenen Immobilien direkt in das Eigentum des Staates über und werden unter anderem der Polizei und der Wehrmacht unterstellt. Trotz allen Drucks, dem Else Mühsam vermutlich ausgesetzt ist, gelingt es ihr und ihrer Tochter, das gemeinsame Eigentum durch die Kriegszeit zu bringen. 
Bleibt die Immobilie Marburger Straße 3 im Besitz der ursprünglichen Eigentümer, weil Else Mühsam keine Jüdin ist und ihre Tochter durch die dänische Staatsbürgerschaft geschützt ist, die sie durch die Ehe erworben hatte?
Oder bleibt das Eigentum unangetastet, weil es Else Mühsam mit Hilfe des Hausverwalters Erich Rossmann gelingt, genügend »arische« Unternehmen als Mieter zu gewinnen? Oder wurden diese Unternehmen von offizieller Seite eigenmächtig als Mieter zugewiesen? Ein Hinweis darauf ist unter anderem die Tatsache, dass Diplom-Ingenieur Kirchner eine Baugenehmigung für den Ausbau der Mansarde zu Bürozwecken in eigenem Namen beantragt, ohne die Unterschrift der Hauseigentümerin.

Marburger3Krieg

Kriegsende

Auch die Häuser der Marburger Straße liegen so gut wie vollständig in Trümmern, bis auf eine Ausnahme. Die Nummer 3 steht nahezu in ihrem einstigen Glanz. Wie durch ein Wunder haben das Haus und selbst die mit Stuck verzierte Fassade die Bombenangriffe unbeschadet überstanden.

1957

Johanna Elisabeth »Else« Mühsam stirbt am 19. Januar 1957 um 10 Uhr, einen Monat vor ihrem 80. Geburtstag, in ihrer Wohnung, Marburger Straße 3. Ihre Tochter Hildegard Schmidt heiratet am 10. März 1958 Ernst Dahlmann. Es ist ihre vierte Ehe.

Die Bezirke Charlottenburg und Wilmersdorf sind in der nun geteilten Stadt Berlin das Zentrum von Westberlin. Der wirtschaftliche Aufschwung, das westdeutsche »Wirtschaftswunder«, erreicht allmählich auch Westberlin. Die Massenarbeits-losigkeit, die noch zu Beginn der 50er Jahre in der Stadt herrschte, geht zurück und 1960 gibt es auch hier Vollbeschäftigung. Die ersten Anzeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs sind in der Tauentzienstraße zu beobachten. Die Zeitung »Der Tagesspiegel« berichtet am 22. Januar 1958:
„Heute Abend wird sich die Tauentzienstraße zum ersten Mal nach dem Kriege in einem Lichtmeer von 201.000 Lumen präsentieren. Die vom Wittenbergplatz bis zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche beiderseits in großer Höhe angebrachten modernen 32 Leuchten enthalten drei je 1,20 m lange Röhren, die eine dreimal so große Leuchtkraft wie die üblichen Glühfadenlampen besitzen.“ 3
Herr Dreyer, der als Mieter der Atelierwohnung im Dachgeschoss des Vorder-hauses Marburger Straße 3 lebt, erhält im »Vorzimmer« einen neuen Ölofen. Der Inbetriebnahme steht laut Bauamt nichts entgegen.
Mit dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wird die wirtschaftliche Entwicklung erst einmal aufgehalten und die Kriegsspuren sind noch lange bis Ende der 60er Jahre sichtbar.

1961

Am Freitag, dem 20. Januar 1961, um 14.27 Uhr, bricht im Dachgeschoss des linken Seitenflügels der Marburger Straße ein Feuer aus. „Es brannten die Holzverkleidung am Ausdehnungsgefäß der Zentralheizung, die Holztür und etwa vier Meter Holzverschalung. Der Brand wurde mit der Kübelspritze gelöscht und die Brandstelle aufgeräumt. Zur Anwendung kam eine Klappleiter. Polizei war anwesend“, heißt es im Bericht der Feuerwehr.
Die Nachfrage nach Wohnraum in der ummauerten Stadt ist groß. Im Herbst 1967 lässt Hildegard Dahlmann die Wohnungen im ersten und zweiten Obergeschoß erneut umbauen. Die großen Büroräume werden verkleinert und teilweise zu Wohnungen umgewandelt. Zu diesem Zweck werden in beiden Etagen neue Bäder und Innentoiletten »mit Entlüftung über die Schornsteine« eingebaut. Der Wohnungsmangel hält noch bis in die 70er Jahre an. Samstagabends bilden sich vor dem Zeitungskiosk am Bahnhof Zoo lange Menschenschlangen, die auf das Erscheinen der Zeitungen des folgenden Tages warten. Für die annoncierten Mietwohnungen interessieren sich vor allem die in die Stadt strömenden Studenten und jungen Männer, die vor dem Wehrdienst aus Westdeutschland in die Mauerstadt geflohen waren.

1970

„Es war eine rein zwischenmenschliche Sympathie, die keinen anderen Background hatte, denn ich war um die 30, die Dame um die 70.“

Volker Mayr antwortet schriftlich auf die Annonce und es dauert nicht lange, bis Frau Dahlmann Verbindung aufnimmt und erzählt, dass zu ihren Mietern unter anderen ein Restaurantbesitzer und ein Universitätsprofessor zählen, ihr „aber ein Journalist noch fehle“.
Hildegard Dahlmann empfängt Volker Mayr „in ihrer wunderschönen Wohnung in der Beletage. Es war sehr unterhaltsam und anregend, mit der feinen älteren Dame zu plaudern.“
Sie hat gesagt, wissen Sie eigentlich, dass sie in der Wohnung leben werden, in der ich „meine Kindheit verbracht habe.“ 
Volker Mayr erinnert sich, dass es bei seinem Einzug bereits zahlreiche Büros im Haus gegeben hat, nicht nur im Vorderhaus, sondern auch im Seitenflügel. Über der Wohnung von Volker und Ellen Mayr hatte die Modemesse Berlin ihre Geschäftsräume. 

Obwohl auch die Auswahl der Mieter zu den Aufgaben des Hausverwalters gehört, behält sich Hildegard Dahlmann dieses Recht jedoch stets selbst vor.  Ohnehin trägt sie die Verantwortung für das Haus und seinen Erhalt. Die Hausfassade wird mehrfach instandgesetzt. Die Eigentümerin selbst kümmert sich darum, dass alles sauber und in einem guten Zustand ist.
„Nach vielen, vielen Jahren rief sie uns an und sagte, dass der Balkon mit dem Kästchenglas renoviert werden müsse, weil er nicht mehr in Ordnung sei. Die Restaurierung des Glases hätte 16.000 Mark gekostet. Frau Dahlmann bot uns an, die Hälfte zu übernehmen. Die andere Hälfte hätten die Mieter zahlen müssen. Wir haben gedacht, 8000 Mark ist ein Haufen Geld.“
Zum Ende des Gesprächs sagt Frau Dahlmann zu ihren Mietern: „Na ja, dann müssen wir es abreißen, weil es sonst zu baufällig ist.“ So ist der große und weite Balkon des Seitenflügels nunmehr seit Jahrzehnten nicht mehr verglast.
„Und wir müssen sagen, es ist auch sehr schön so offen“, sagt Volker Mayr, der heute als Pensionär auf dem Balkon zahlreiche Küchenkräuter pflegt, die Tageszeitung liest und mit seiner Frau Ellen frühstückt, wann immer das Wetter dies zulässt. Als Volker und Ellen Mayr 1972 in die Marburger Straße ziehen, ist der schöne Dielenfußboden der Wohnung noch unter der Auslegware verborgen.
„Da waren Teppiche, die wir später rausgerissen haben, darunter war dickes Linoleum. Dieses Linoleum war dieses schöne, grüne, das man damals in der Nachkriegszeit hatte, aber das war schon schäbig und fing an zu stinken. Wir haben beschlossen, alles raus zu reißen. Da waren viele Beläge drüber, alles hat furchtbar gestunken, aber darunter kamen wunderbare Dielen aus der Zeit der Jahrhundertwende, Pitch Pine-Dielen aus Amerika, zum Vorschein. Sie sind besonders hart und breit und ohne Äste. Die gibt es nicht so oft.“
In der Zeit, zu der das Linoleum verlegt wurde, war die Wohnung vom Ehepaar Mayr als Büroraum an den bereits vor dem Krieg der Marburger Straße ansässigen Klöckner Stahl- und Metallhandel vermietet. „Ich habe später sogar Leute getroffen, die sagten, oh, da habe ich gearbeitet, als ich bei Klöckner war.“

1984

In den frühen Morgenstunden des 30. Oktober 1984 stirbt Hildegard Dahlmann im Alter von 76 Jahren. Das Haus Marburger Straße 3 geht laut Testament an den langjährigen Hausverwalter Karl-Heinz Wilhelm.

Seit 2009

Als Timo Miettinen das Haus in der Marburger Straße 3 zum ersten Mal sieht, ist es ohne Übertreibung Liebe auf den ersten Blick. Zum Jahreswechsel 2009/2010 macht er Urlaub in Berlin und steht mit seiner Frau ganz zufällig an der Ecke Marburger Straße und denkt darüber nach, warum ihm der Name der Straße so bekannt vorkommt.

„Ich sagte zu meiner Frau, lass uns Jetzt dort entlang gehen. Dann sah ich dieses unglaublich schöne Haus zum ersten mal.“

Timo Miettinen ist in Berlin schon lange auf der Suche nach einer geeigneten Immobilie für sein finnisches Familienunternehmen EM Group. Über vierzig Immobilien hat er sich bereits angesehen, aber nichts Passendes gefunden. Als er vor dem Haus Marburger Straße 3 steht, erinnert er sich, den Namen der Straße in den Unterlagen seiner Bank gelesen zu haben. Sollte das etwa das im Exposé erwähnte Haus sein? Der Makler, der zu dem Zeitpunkt auf einer Skipiste in den Alpen steht, bestätigt die Vermutung und arrangiert gleich zu Beginn des neuen Jahres eine Hausbesichtigung.

„Meine Frau und ich, wir sahen uns das Haus an und waren überrascht.“Dieses historisch bedeutsame und hinsichtlich seiner Lage ausgezeichnete Haus ist genau das, wonach Timo Miettinen seit langem gesucht hatte. Danach geht alles sehr schnell. Der Kaufvertrag mit Karl-Heinz Wilhelm wird nach harten Verhandlungen bereits einige Wochen nach der ersten Begegnung im Sommer 2010 geschlossen.

Seither wird die »Beletage« des Hauses, in der Hildegard Dahlmann bis zu ihrem Tod lebte, von Grund auf saniert. Die ursprüngliche Atmosphäre der »schönen Etage«, die im Laufe der Jahrzehnte so manche Veränderung erfahren hatte, wird zu neuem Leben erweckt. Die alten, ursprünglich aber für die zwischenzeitliche Nutzung eingebauten Wand- und Deckenkonstruktionen haben nun ausgedient. Die Stuckverzierungen an den Decken sind wiederhergerichtet, die ursprünglichen Fußböden, die unter der Auslegware und dem Linoleum zum Vorschein gekommen waren, erstrahlen bereits in neuem Glanz. Bei der Instandsetzung wollen die neuen Eigentümer Altes soweit wie möglich bewahren, wenn aber neu gebaut werden muss, dann soll dies in moderner Form erfolgen, wie es die für die Sanierung des Hauses zuständigen Architekten Wille und Sollich auf den Punkt bringen.
Auch hinsichtlich der Funktion streben die neuen Eigentümer, Timo Miettinen und seine drei Schwestern, nach einer gesunden Mischung aus Alt und Neu. Ziel ist, das Haus allmählich zu modernisieren, die Büroräume zu vermieten, gleichzeitig aber auch „Kultur, Design und Kunst zu fördern“, wünscht sich Timo Miettinen. Zu diesem Zweck wird zumindest ein Teil der »Beletage« derzeit neu geplant. Damit möchte Timo Miettinen eine Achse zwischen Finnland und Deutschland schaffen. „Wir stellen uns vor, eine Wohnung mit finnischem und deutschem Design einzurichten. In diesen Räumen im vorderen Bereich des ersten Obergeschosses könnten wir dann verschiedene Events veranstalten oder die Räume an Unternehmen für deren eigene Veranstaltungen vermieten.“
Dem leidenschaftlichen Kunstsammler ist die Förderung zeitgenössischer Kunst eine Herzensangelegenheit. „In Berlin leben viele begabte finnische Künstler, die noch niemand kennt. In den Räumen könnte finnische und deutsche Kunst gezeigt werden, zusammen oder getrennt.“
Und Timo Miettinen schließt auch nicht aus, dass hier irgendwann Werke aus seiner eigenen Sammlung zu sehen sein werden. Die Verbindung Finnland – Deutschland ist ein Teil von Timo Miettinens Leben, seit er zwölf Jahre alt ist. Damals schickte der Vater, der in den 50er Jahren das Unternehmen für Elektrozubehör Ensto Oy gegründet hatte, seinen ältesten Sohn das erste Mal ins Ausland.

„Der kreative Geist ist gen Osten gezogen, wir aber sind davon überzeugt, dass sich auch dieses Gebiet zukünftig entwickeln wird. Wir wollen ein Teil der Erfolgsgeschichte im kreativen Charlottenburg sein“, wünscht sich der Visionär Timo Miettinen.

Autorin: Irja Wendisch

Die Chronik als BucH

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